NIEMAND hätte vorhersagen können, dass die Beharrlichkeit eines Mannes den Lauf der Geschichte verändern würde.
Aber die Nachwirkungen von Ingenieur Nick Steinsbergers Arbeit im Barnett Schiefergasfeld – wo er vor 20 Jahren die perfekt zusammengesetzte Fracturing-Flüssigkeit für die Extraktion von Gas aus mehr als 3.000 Meter unter der Erde liegendem Schiefer gefunden hatte – sind noch heute spürbar; nicht nur in Amerika, sondern auf der ganzen Welt.
„Ich glaube nicht, dass es nur an mir liegt, und ich hätte auch ursprünglich nie gedacht, dass das passieren würde”, erzählt er dem INCH-Magazin in seinem Büro in Fort Worth, Texas. „Damals war ich nur auf der Suche nach einer Lösung. Erst mit der Zeit begriff ich, von welch enormer Bedeutung diese Errungenschaft war. Es ist ein gutes Gefühl, zur Versorgung der Welt mit so viel preiswertem Gas beigetragen zu haben.”
Diese Revolution – sie wird oft als die außergewöhnlichste Erfolgsgeschichte im Energiesektor der US-Geschichte bezeichnet – brachte den USA enorme Vorteile. Für die petrochemische Industrie, einen der größten Gasverbraucher der Welt. Für die verarbeitende Industrie, die einen neuen Aufschwung erlebte. Für Gebiete, die besonders hart von der Rezession betroffen waren. Und völlig unerwartet – für die Umwelt.
Vor zwanzig Jahren gab es im Barnett Gasfeld 250 Bohrlöcher zur Suche nach Schiefergas und Öl; heute sind es mehr als 200.000.
Für Amerikas petrochemische Industrie war die Entdeckung der riesigen, ungenutzten Schiefergas-Reserven phänomenal.
„Die Investitionen der US-Chemieindustrie in Schiefergas haben mittlerweile 158 Milliarden Dollar erreicht”, sagt Cal Dooley, Präsident und CEO des American Chemistry Council.
Per Januar dieses Jahres sind 262 Projekte in Form neuer Fabriken, Erweiterungen und Prozessänderungen zur Erhöhung der Kapazität angekündigt worden.
Die petrochemische Industrie benötigt Erdgas zum Heizen und für den Betrieb ihrer Produktionsanlagen. Das Gas ist aber nicht nur Energielieferant. Es ist auch Rohstoff für die Herstellung Tausender wichtiger Produkte, die wir tagtäglich brauchen. Ohne sie gäbe es keine Autoteile, keine Verpackung, keine Medizinprodukte, keine Reifen, kein Glas, keine Kleidung und keine iPad-Bildschirme aus Kunststoff.
„Das vergisst man oft in all den hitzigen Debatten über die Vorzüge der weiteren Nutzung von Gas”, sagt Greet Van Eetvelde, INEOS Head of Energy and Innovation Policy. „Auch viele Komponenten zur Erzeugung erneuerbarer Energien wie z.B. Rotorblätter für Windkraftanlagen und die Schmierstoffe in deren Getriebe können nicht ohne Gas und Öl hergestellt werden.”
Schiefergas macht diese Herstellung deutlich billiger.
„Der neue Aufschwung der US-Chemieindustrie hat gerade erst eingesetzt”, schrieb Kevin Swift, Chef-Ökonom des American Chemistry Council, im Situationsbericht und Ausblick der Chemieindustrie zum Jahresende 2015. „Die Grundlagen sind fest. Die wichtigen heimischen Endverbrauchermärkte haben expandiert, die Verbraucherausgaben sind gestiegen, der Arbeitsmarkt ist stabiler geworden und die Haushalte sind in den Genuss zusätzlicher Einsparungen durch niedrigere Energiekosten gekommen.”
INEOS ist mit 17 Produktionsstätten in den USA daran beteiligt.
Die neue Anlage von INEOS und Sasol im INEOS Battleground Manufacturing Complex bei LaPorte in Texas dürfte noch in diesem Jahr rentabel werden.
Die Anlage – ein 50/50-Joint Venture – wird in der Lage sein, pro Jahr 470.000 Tonnen Polyethylen hoher Dichte für den amerikanischen Markt herzustellen. Mit dem zu erwartenden Standortwachstum kann INEOS auch die geplanten Investitionen in eine kraftstoffeffizientere Kraft-Wärme-Kopplung umsetzen; dies wird dazu beitragen, die CO2-Emissionen zu senken.
The Boston Consulting Group veröffentlichte im Dezember den Bericht „Made In America, Again”.
„Die Zahl der Unternehmen, die ihre Produktion aktiv zurück in die USA verlegen, nimmt weiter zu”, sagte ein Sprecher. „Die USA haben sogar China als wahrscheinlichstes Ziel für neue Produktionskapazitäten übertroffen.”
Das liegt zum Teil an niedrigeren Energiekosten durch Schiefergas und steigende Löhne in China.
Apple, das weltgrößte Technologie-Unternehmen, nennt dies als Begründung für seine Entscheidung, die Herstellung des MacPro – der als leistungsfähigster Mac aller Zeiten bezeichnet wird – nach Texas zu verlegen.
Die Situation ist so ganz anders als vor einem Jahrzehnt, als die USA für die Kunststoffhersteller zu den teuersten Orten der Welt zählten.
„Heute ist Amerika einer der attraktivsten Orte der Welt für Investitionen in die Kunststoffproduktion”, sagt Steve Russell, Vizepräsident Kunststoffe bei ACC, letztes Jahr. „Selbst nach dem jüngsten Rückgang des Ölpreises hat unser Land einen entscheidenden Vorsprung.”
Amerika möchte nun von diesen Investitionen profitieren und in die ganze Welt verkaufen. Cal Dooley bezeichnete das im letzten Jahr als den „sichersten Weg zu einer stärkeren Wirtschaft und neuen Arbeitsplätzen”.
Das globale Beratungsunternehmen Nexant rechnet mit einer deutlichen Zunahme der amerikanischen Chemie-Exporte in den nächsten 15 Jahren.
In seinem Bericht „Fuelling Export Growth” für 2015 nennt es Absätze in Höhe von 123 Milliarden Dollar bis zum Jahr 2030 – mehr als das Doppelte von dem, was Chemieunternehmen 2014 exportiert haben.
Aber auch Amerikaner haben zusehends Appetit auf Produkte „Made in USA”.
Einer, der das versteht, ist Harry Moser, ein Veteran der verarbeitenden Industrie und ehemaliger Präsident des Werkzeugmaschinen-Herstellers GF AgieCharmilles, der im Jahr 2010 die „Reshoring Initiative” gründete, um Unternehmen bei ihrer Entscheidung für oder gegen eine Rückkehr in die USA zu helfen.
„Ich hatte mit Bestürzung beobachtet, wie mehr und mehr Arbeitsplätze aus den USA zunächst nach Japan, dann Mexiko, Taiwan, Korea und schließlich China abgewandert sind”, sagt er. „Die Auswirkungen auf die US-Wirtschaft waren schrecklich, in der verarbeitenden Industrie gingen Millionen Arbeitsplätze verloren. Die Vereinigten Staaten waren einmal die treibende Industriemacht gewesen, ich war in dieser großartigen Zeit aufgewachsen.”
Seit Gründung seiner Reshoring Initiative sind etwa 1.000 Unternehmen zurückgekehrt, und mit ihnen fast 100.000 Arbeitsplätze.
„Ich freue mich sehr über die Resonanz im Land und seitens vieler Unternehmen”, so Harry. „Leider verharren jedoch viele Unternehmen noch im Modus des günstigsten Einkaufspreises, anstatt die Gesamtkosten zu berücksichtigen. Es wird Jahrzehnte dauern, diese MBA-Mentalität zu überwinden.”
Apples Entscheidung, seine MacPro in Amerika herzustellen, war Teil von CEO Tim Cooks 100-Millionen-Dollar-Initiative „Made in USA”.
„Wir wollen den MacPro hier nicht nur zusammenbauen”, sagt er. „Wir wollen das ganze Ding hier herstellen. Das ist eine große Sache.”
Im Januar dieses Jahres kündigte Bollman, Amerikas älteste Hutfabrik an, dass 41 Arbeitsplätze aus China zurück in das Werk in Adamstown, Pennsylvania, verlegt werden. Im November hatte es einen Aufruf an die Öffentlichkeit gegeben, 100.000 US-Dollar für den Import von 80 im Jahr 1938 gebauten Strickmaschinen aufzubringen, die den Stoff für den berühmten Kangol 504 der Firma herstellen. Die Öffentlichkeit zog vor der Haltung der Firma den Hut – und machte mit.
„Die Rückverlagerung ist der schnellste und effizienteste Weg, die US-Wirtschaft zu stärken, denn sie zeigt, dass die verarbeitende Industrie Zukunft hat”, sagt Harry. „Ohne verarbeitende Industrie wird ein Land Schritt für Schritt ärmer.”
Aber nicht nur die Industrie profitiert von günstigen Rohstoff- und Energiepreisen.
Schiefergas hat Orte regelrecht revitalisiert; auch solche, die von der Rezession besonders hart betroffen waren.
Die Associated Petroleum Industries of Pennsylvania meinen, die Gasförderung habe Pennsylvania Hunderttausende Jobs gebracht, jährlich 34,7 Milliarden Dollar zum Haushalt des Staates beigetragen und den Gewinn von mehr als 1.300 Unternehmen aller Größen in der gesamten Energieversorgungskette gesteigert.
„Die sichere und verantwortungsbewusste Gasförderung ist gut für die Wirtschaft unseres Staates, für die lokale Wirtschaft und für die Einwohner Pennsylvanias gewesen”, meint Executive Director Stephanie Catarino Wissmann. „Und so soll es bleiben.”
In Marcus Hook, dem ehemaligen Standort einer Erdölraffinerie, deren Schließung 2011 mit dem Verlust von 500 Arbeitsplätzen einherging, ist die Aufregung groß.
Die ehemalige Raffinerie, die 109 Jahre lang Benzin, Diesel und Kerosin produziert hatte, wird in ein wichtiges Zentrum für die Verarbeitung und Verschiffung von verflüssigtem Erdgas umgewandelt – dank der Verbindung zur Marcellus- Schiefergasindustrie.
„Der Stillstand der Marcus Hook-Raffinerie war für den Ort Marcus Hook, für die Sunoco-Familie und für die gesamte Region schwer zu verkraften”, fasst Hank Alexander, Vice President Business Development der Sunoco Logistics Partners LP, zusammen. „Aber jetzt ist wieder Leben in der Stadt, von Restaurants in der Innenstadt bis zu lokalen Vertragsfirmen. Einige der Arbeiter, die 2011 arbeitslos wurden, arbeiten sogar wieder in der Anlage.”
Sunoco Logistics hatte die alte Raffinerie im Jahr 2013 mit der Absicht gekauft, eine Verbindung zum Marcellus-Schiefergasfeld herzustellen, das nun fast 20 Prozent des amerikanischen Erdgases liefert – im Vergleich zu Null vor zehn Jahren.
Das Management war überzeugt davon, dass die vorhandene Infrastruktur für Schiff, Bahn, LKW und Pipeline als Drehscheibe für verflüssigtes Erdgas prädestiniert sei.
„Wir wollten Produktionsunternehmen entwickeln, die wieder Arbeitsplätze schaffen und die verarbeitende Industrie der Region wiederbeleben”, sagt Hank. „Der Schiefergas-Boom hat Städte wie Marcus Hook wieder mit Leben erfüllt.”
Mario Giambrone ist der Eigentümer von Italiano’s Restaurant in Marcus Hook. „Beschreiben Sie es, wie Sie wollen, in verkauften Brötchen oder Pizzas, es ist auf jeden Fall ein Segen für diese Stadt und für mein Geschäft”, freut er sich im Gespräch mit dem Herstellerverband von Pennsylvania.
David Taylor ist Präsident dieser Vereinigung, die die verarbeitende Industrie in Pennsylvania vertritt. „Der Energiesektor hat Pennsylvanias Wirtschaft während der Rezession und in den letzten Jahren fast im Alleingang über Wasser gehalten”, so sein Hinweis.
Die Energieförderung aus dem Marcellus- Schiefergasfeld hat das nahegelegene Williamsport zu der am siebt-schnellsten wachsenden Metropolregion in den USA gemacht.
Dr. Vince Matteo, Präsident und CEO der Williamsport Lycoming Chamber of Commerce and Industrial Properties Corporation, sagt, die überwiegende Mehrheit der Menschen vor Ort haben den Schiefergas-Boom positiv aufgenommen:
„Er machte für uns den entscheidenden Unterschied. So etwas hatte ich zuvor noch nie erlebt. Mit einem Mal kamen mehr als 85 Betriebe in unser County, was zur Eröffnung von unzähligen Restaurants und vier neuen Hotels geführt hat.”
In der Zwischenzeit wurde Williston, vormals ein verschlafenes Städtchen in North Dakota, infolge des Öl-Booms plötzlich zur am schnellsten wachsenden Kleinstadt Amerikas – auch hier neue Restaurants, neue Geschäfte und neue Gesichter.
Die Gemeinden profitieren auch von den unerwarteten Einnahmen durch Firmen, die nach Schiefergas bohren, und können in Verbesserungen investieren, die sonst nicht möglich gewesen wären.
„Diese neue Einnahmequelle hat uns enorm viel gebracht”, sagt Lisa Cessna, leitende Direktorin der lokalen Planungskommission in Washington County der Associated Press. „Wir konnten Angelstege, Spielplätze und Wanderwege anlegen.”
Lisa fasst zusammen, dass es zwar Beschwerden über Bohrstellen auf öffentlichem Grund gegeben, das Endergebnis aber die negativen Seiten überwogen habe.
„Es kann funktionieren”, meint sie. „Der Weg ist ein wenig holprig. Einige Leute regen sich auf. Wir bestehen auf besonderen rechtlichen Formulierungen, die uns die Kontrolle über viele Bereiche des Bohrvorgangs geben. Wir genehmigen jede Pipeline, jeden Bohrplatz, jede Zufahrtsstraße. Das ist arbeitsaufwändig, aber es lohnt sich. Am allerwichtigsten ist es, die volle Kontrolle zu behalten.”
Eine der größten Überraschungen war jedoch die Wirkung des Schiefergases auf die Luft, die wir einatmen – Amerikas CO2-Emissionen sanken 2012 auf den niedrigsten Stand seit 20 Jahren.
Der Grund? Anstelle von Kohle, die doppelt so viel CO2 emittiert, wurde Gas zum Brennstoff der Wahl für die Stromerzeugung.
Trotz all dieser Vorteile sind nicht alle – vor allem nicht jene ganz oben – Verfechter von Schiefergas.
„Präsident Obamas Ablehnung fossiler Brennstoffe hindert ihn daran, den bemerkenswertesten Erfolg auf dem Energiesektor in der Geschichte der USA, vielleicht in der ganzen Weltgeschichte, anzuerkennen”, sagt Dr. Mark Perry, Wissenschaftler am American Enterprise Institute und Wirtschaftsprofessor an der University of Michigan. „Aber wir brauchen einen Präsidenten, der das anerkennt.”
Dr. Perry zufolge habe Schieferöl Amerikas Abhängigkeit von ausländischem Öl und Erdöl aus oft instabilen Teilen der Welt wesentlich reduziert.
Es habe zur Senkung der Treibstoffpreise beigetragen und verhindert, dass die große Rezession noch schlimmer ausfällt und deutlich länger dauert.
„Die heimische Energieproduktion schafft Arbeitsplätze in den USA, beschert den Grundbesitzern Lizenzgebühren und den Regierungen Steuereinnahmen – auf bundesstaatlicher, lokaler und gesamtstaatlicher Ebene. Durch den Rückgang der US-Gaspreise auf ein Sieben-Jahres-Tief ersparen sich die amerikanischen Verbraucher in diesem Jahr durch die niedrigeren Energiekosten mehr als 100 Milliarden Dollar.”