Der Erwerb der Gasfelder in der Nordsee markiert einen wichtigen Moment in INEOS‘ Firmengeschichte. Doch es ist nicht das erste Mal, dass INEOS das anscheinend Unmögliche erreicht hat. Vor zehn Jahren brachte es neun Milliarden US-Dollar auf, um BPs riesiges Chemikalienunternehmen INNOVENE zu erwerben. Mit diesem bahnbrechenden Deal änderte sich INEOS‘ Gesicht über Nacht
Das war das Jahr 2005.
Die Welt befürchtete, eine Vogelgrippenpandemie stünde unmittelbar bevor, da sich Krankheitsfälle von Asien nach Europa ausbreiteten, Millionen trauerten um Papst Johannes Paul II. und Saddam Hussein wurde vor Gericht gestellt.
INEOS‘ Geschäfte gingen gut. Es erzielte einen Umsatz von mehr als acht Milliarden US-Dollar pro Jahr und beschäftigte an 20 Standorten weltweit mehr als 7.500 Menschen.
Doch INEOS Capital hatte größere Ambitionen, wollte investieren.
BP plante, INNOVENE, sein riesiges Chemikaliengeschäft, an die New Yorker Börse zu bringen. Doch INEOS überzeugte dessen Managementteam, die Olefine-, Derivate- und Raffinerie-Tochtergesellschaft stattdessen für neun Milliarden US-Dollar zu verkaufen.
Es war ein enormer Einsatz und der Deal wurde vereinbart, ohne viele Standorte zu besichtigen.
Dieser kühne Schritt katapultierte INEOS in die Liga der großen globalen petrochemischen Unternehmen.
INNOVENE verfügte über 8.000 Beschäftigte und 26 Produktionsstandorte in Amerika, Kanada, im Vereinigten Königreich, in Frankreich, Belgien, Deutschland und Italien.
„Durch das Geschäft wurde INEOS, das bis dahin außergewöhnliche Zurückhaltung geübt hatte, in die Reihe der hochrangigen globalen Chemieunternehmen befördert“, sagte Patricia Short, Journalistin bei der Chemical & Engineering News.
Nach der Übernahme erzielten die zusammengelegten Unternehmen einen Umsatz von mehr als 30 Milliarden US-Dollar, wodurch INEOS zum viertgrößten Petrochemieunternehmen der Welt wurde.
Jim Ratcliffe beschrieb das Geschäft – die größte Veräußerung, die BP jemals vorgenommen hat – als „transformative Übernahme“.
Über Nacht war der Umfang seines Unternehmens mehr als doppelt so groß.
Die Übernahme, die die Raffinerien in Lavéra und Grangemouth einschloss, vervollständigte INEOS‘ Portfolio an Ethylen- und Propylenderivaten.
David Anderson, President der Chemical Market Resources, Inc., eine Unternehmensberatung mit Sitz in Houston, erinnert sich gut an den Deal.
„Das war ein kleines Unternehmen, das es mit den Großen aufnahm“, sagte er. „Es war der Guppy, der den Wal verschluckt. Niemand glaubte, dass es nicht funktionieren würde. Aber es ging darum, ob das INEOSTeam alle Teile in eine zusammenhängende wirtschaftliche Einheit integrieren kann.“
Es hätte schrecklich schief gehen können. Aber das tat es nicht.
INEOS hatte sich schließlich daran gewöhnt, bei Firmen wie ICI, BASF und BP nicht mehr gewollte Bereiche zu kaufen, während diese Chemieriesen ihre eigenen Unternehmen umstrukturierten. Wenn irgendein Unternehmen auf diesem Planeten es könnte, dann INEOS. INEOS fragte sich lediglich, ob es die Gewinne (EBITDA) der von ihm übernommenen Unternehmen in fünf Jahren verdoppeln könnte.
Dies entsprach nicht ganz der Ansicht derer, die zu diesem Zeitpunkt für INNOVENE arbeiteten. Bob Sokol, heute Chief Financial Officer von C2 Derivatives, hatte von INEOS gehört, aber sah es als kleines, auf Europa fokussiertes Chemieunternehmen an.
„Ich habe es niemals für ein Unternehmen gehalten, das so etwas wie die INNOVENEÜbernahme im Umfang von neun Milliarden US-Dollar zustande bringen könnte“, sagte er.
Er merkte an, dass sich die Beschäftigten von INNOVENE der bevorstehenden Änderungen bewusst waren.
„Die Beschäftigten bewegten sich in einem Umfeld von Ungewissheit, doch diese Ungewissheit verschob sich von einem Börsengang zur Übernahme durch ein weitgehend unbekanntes Chemieunternehmen über eine 100-prozentige Fremdfinanzierung“, sagte er.
Dennis Seith, heute Chief Executive Officer von INEOS O&P USA, war Mitglied des Managementteams, das BP für die Gründung von INNOVENE ausgewählt hatte.
„Ich hatte noch nie von INEOS gehört und es war für die meisten Unternehmen in den USA und für INNOVENE kein geläufiger Name“, erklärte er.
Doch das enorme Tempo der Veränderungen im Anschluss an die Übernahme ließ den Beschäftigten wenig Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, dass ein kleines Unternehmen gerade einen Giganten aus der Welt der Chemikalien übernommen hatte.
„Die Angst vor dem Unbekannten führt immer zu einer gewissen Verunsicherung, aber wir mussten einen Job erledigen, und die Arbeit war so intensiv, dass wenig Zeit übrig blieb, um sich mit dem, was passierte, zu belasten“, sagte er. „Nach meiner Erinnerung daran war es sowohl berauschend als auch entnervend. Wir hatten die Chance Bürokratie abzubauen, neue Ideen auszuprobieren, unternehmerisch zu agieren und für den Erfolg oder das Versagen bei den Geschäften die Verantwortung zu übernehmen.“
Bei dem Deal übernahm INEOS ein zwölfköpfiges Team von Führungskräften. Innerhalb eines Jahres war nur eine Person geblieben.
„Das war ich“, sagte Dennis. „Es blieben nur wenige Ebenen im Unternehmen übrig, und die Verantwortung wurde denen übertragen, die bereit waren, sie zu übernehmen. Viele fühlten sich mit dem Personalabbau, der Reduzierung der Gemeinkosten oder mit dem Vorgehen, in einem Privatunternehmen unternehmerische Verantwortung zu übernehmen, nicht wohl.“
BP hatte sich zu einem sehr unbeweglichen, bürokratischen Unternehmen entwickelt, das sich in immer neue Peer Reviews verrannt hatte und unter Unentschlossenheit litt.
Bei INEOS wurden Vollmachten verschärft und Entscheidungen auf allen Ebenen getroffen. Die Ausgaben auf Unternehmensebene wurden eingeschränkt. Investitionsausgaben wurden sehr viel strenger kontrolliert. Die Beschäftigten wurden aufgefordert, die Kosten um mindestens 25 Prozent zu senken. Das Management begann eine neue Unternehmenskultur einzuführen, bei der die Beschäftigten gebeten wurden, im Geschäftsleben wie „Eigentümer“ zu handeln, wobei Kosten und Entscheidungen für ihre Zukunft von Bedeutung waren.
„Wir verhielten uns wahrhaftig zielgerichtet und entwickelten die Vision, die wir noch heute für das Unternehmen haben“, sagte Dennis.
Er war davon überzeugt – und ist es noch immer –, dass die Übernahme das Beste war, was passieren konnte.
„BPs Chemikalienbereich war ein gutes Unternehmen, war aber mit seiner ausgeprägten Matrixstruktur eindeutig vom Weg abgekommen“, erklärte Dennis. „INEOS gab uns die Möglichkeit, ein Unternehmen wirklich zu führen und gemeinsam mit sehr talentierten Personen auf gemeinsame Ziele hinzuarbeiten. Die Bemühungen jedes einzelnen Beschäftigten sind wichtig und verändern etwas. Grenzen waren uns lediglich durch unsere eigene Kreativität und durch unsere Entscheidung gesetzt, wie wir für unsere Ressourcen Prioritäten setzen.“
Joe Walton, derzeit Business Director von INEOS Oligomers, arbeitete auch bei BP INNOVENE.
„Einige meiner Kolleginnen und Kollegen bei BP waren sehr beunruhigt darüber, die angenommene Stabilität eines Großkonzerns wie BP für ein fremdfinanziertes Unternehmen wie INEOS hinter sich zu lassen“, sagte er. „Geht man jedoch zehn Jahre in INEOS‘ Firmengeschichte zurück und vergleicht INEOS mit BP, war diese Ansicht falsch.“
Joe war bei BP für die Optimierung des globalen Geschäfts nur für die Bereiche Linear Alpha Olefins (LAO) und Polyalpha Olefins (PAO) verantwortlich.
Nach der Übernahme vergrößerte sich sein Aufgabengebiet, ihm wurde die Verantwortung für das Management, den Verkauf und die Technologie des Oligomer-Geschäfts übertragen.
„Viele meiner Kunden wollten wissen, wie es sei, für INEOS statt für BP zu arbeiten“, erklärte er. „Ich erzählte ihnen immer, dass ich als Business Manager bei BP 60 Prozent meiner Zeit damit verbracht habe, den Geschäftsbereich zu leiten, und 40 Prozent mit der Beantwortung von Fragen zentraler Abteilungen, die nicht zur Wertschöpfung beitrugen. Bei INEOS verbringe ich mehr als 90 Prozent meiner Zeit damit, das Geschäft aktiv zu leiten.“
Nur wenige Wochen nach der Übernahme gründete INEOS sieben neue Geschäftsbereiche, die Raffinerien, Olefine, Polyolefine, Olefine und Polymere in den USA, Nitrile, Technologien und Oligomere umfassten.
INNOVENE gab es nicht mehr. Nun gab es INEOS Nitriles, INEOS Olefins und INEOS Polyolefins in Europa, INEOS Olefins & Polymers USA, INEOS Oligomers, INEOS Refining und INEOS Technologies, jeweils mit einem eigenen fokussierten Team.
Im selben Jahr wurde Jim von Management Today zum besten Unternehmer Großbritanniens gewählt, vor Charles Dunstone von Carphone Warehouse und Simon Nixon, Gründer von Moneysupermarket.com.
Die Wirtschaftszeitung beschrieb Ratcliffe als „Antwort der chemischen Industrie auf den Stahlmagnaten Lakshmi Mittal“.
In den ersten zehn Jahren hat INEOS mehr als 20 Akquisitionen getätigt. Doch der INNOVENE-Deal wird immer das Geschäft bleiben, das das Gesicht von INEOS für immer verändert hat.
Mit Blick auf die Zukunft drängt sich das Gefühl auf, dass die Übernahme der Gasfelder in der Nordsee eine ganz ähnliche Wirkung haben könnte.