Die Entdeckung des Higgs-Boson-Partikels, eines fundamentalen Elementarteilchens, machte Physiker/innen einen Tag lang so berühmt wie Rockstars. Es war überaus schwierig, doch eine Generation von Physiker/innen war so sehr davon überzeugt, dass es dieses Teilchen geben musste, dass sie 40 Länder weltweit dazu überredeten, die komplizierteste Apparatur, die es jemals gegeben hat, zu bauen, um diese Theorie nachzuweisen.
Aber wie stehen wir dazu? Hat es uns wirklich interessiert? Soll es uns interessieren? Warum ist diese Entdeckung so wichtig?
INCH begab sich in das Beschleunigerzentrum CERN, in der Nähe des Hauptsitzes von INEOS, und hörte sich an, was einige der Wissenschaftler/innen, die am Experiment beteiligt waren, dazu sagen.
ES handelte sich um eine der größten wissenschaftlichen Entdeckungen aller Zeiten.
Viele Physiker/innen, deren Laufbahn vor allem der Suche nach dem schwer fassbaren Higgs-Boson- Teilchen gewidmet worden war, dachten, sie würden es selbst nie erleben.
Doch der Durchschnittsbürger, die Durchschnittsbürgerin und das Durchschnittskind fragen sich wahrscheinlich immer noch, warum die Entdeckung des Higgs-Boson-Teilchens für sie wichtig ist und ob es sich gelohnt hat, 7,5 Milliarden Euro für seine Entdeckung, insbesondere mitten in einer Weltwirtschaftskrise, dafür auszugeben.
Dies ist eine Frage, die Ainissa Ramirez, ehemalige außerordentliche Professorin für Maschinenbau und Werkstoffwissenschaften an der amerikanischen Yale- Universität, gut verstehen kann.
„Diese Entdeckung ist so wichtig wie die von Kopernikus“, so ihre Aussage. „Aber die Menschen interessieren sich nicht für die Einzelheiten zum Higgs-Teilchen. Jedenfalls noch nicht. Sie wollen wissen, warum es wichtig ist und wie sich dadurch der Lauf der Menschheitsgeschichte ändert.“
Eines ist sicher: Es wird unsere Welt prägen. Wir wissen nur noch nicht genau, wie.
„Ich kann nicht versprechen, dass die Erfindung des Higgs-Teilchen zu einer neuen Art von Teflonpfanne oder anderen konkreten Veränderungen im Alltag führen wird“, so Professor Dave Charlton, wissenschaftlicher Leiter des ATLAS-Experiments bei CERN, womit das Teilchen entdeckt wurde. „Wahrscheinlich nicht. Aber ich hoffe, dass der Durchschnittsmensch das gemeinsame Ziel vieler Menschen nachvollziehen kann, die besser verstehen wollen, wie Dinge funktionieren. Grenzen zu erweitern, um die Bausteine unseres Universums zu verstehen ist sicherlich ein kulturelles wie wissenschaftliches Muss.“
Professor Charlton, der auch Professor für Teilchenphysik an der britischen Universität Birmingham ist, sagte, es sei schwierig, die Higgs-Teilchen- Entdeckung mit früheren historischen Entdeckungen wie der Radioaktivität oder der Struktur der Erbmasse zu vergleichen.
„Es ist einfach noch zu früh“, sagte er. „Es kann Jahrzehnte dauern oder noch länger, bis man versteht, wie eine solche neue Physik zu neuen Technologien führen kann. Wir können noch nicht abschätzen, inwieweit die nächsten wissenschaftlichen Schritte aussehen werden. Aber wir sind gerade einen sehr großen Schritt weitergekommen, indem wir entdeckt haben, was Teilchen ihre Masse gibt.“
Damit das Higgs-Boson-Teilchen entdeckt werden konnte, das Elementarteilchen, das allem, was wir sehen, seine Masse verleiht und dem Entdecker den begehrtesten Preis für Physik einbrachte, mussten Wissenschaftler/innen die Bedingungen nachbilden, die nach weniger als einem Milliardstel einer Sekunde nach dem Urknall vor 13,7 Milliarden Jahren herrschten. Dazu mussten sie die komplizierteste Versuchsapparatur der Geschichte bauen.
Mehr als 15 Jahre lang brachten mehr als 10.000 Wissenschaftler/innen aus 40 Ländern ihre Zeit und ihr Fachwissen ein, um einen Teilchenbeschleuniger in einem fast kreisförmigen 27 Kilometer langen Tunnel einhundert Meter unter der Erde in der Nähe von Genf in der Schweiz zu bauen.
Professor Sir Jim Virdee von der Londoner Hochschule Imperial College bemerkte hierzu, dass einige der Technologien noch nicht existierten, als man damit begann, den Großen Teilchenbeschleuniger (LHC), der subatomare Teilchen fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigen und dann zertrümmern würde, zu konstruieren.
Aber die Entdeckung des Higgs-Boson-Teilchen im Juli 2012, die im März 2013 bestätigt wurde, zeigte schließlich der Welt, was die theoretischen Physiker Peter Higgs, Robert Brout und François Englert fast fünfzig Jahre zuvor vorhergesagt hatten. In Zukunft können damit vielleicht grundlegende Fragen zum Ursprung des Universums und vielleicht, was noch wichtiger ist, zu dessen Zukunft beantwortet werden.
„Wir haben ein schwieriges und langwieriges Rätsel gelöst“, so Professor Charlton. „Aber mit der Entdeckung wurden mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Einige dieser Fragen sind nicht neu, doch durch die Entdeckung ist man sich der echten Problematik bewusst geworden. Es handelt sich nicht mehr nur um rein hypothetische Probleme.“
Als das Elektron 1897 entdeckt wurde, so Frau Ramirez, wusste man auch nicht, was der praktische Nutzen war. „Was heute ganz klar ist, ist, dass wir ohne Elektronen nicht leben können, da sie in allen elektronischen Geräten vorhanden sind.“
CERN, die Europäische Organisation für Kernforschung, wurde 1954 gegründet. Ihr Auftrag bestand – und besteht immer noch – darin, an die Grenzen der Technik vorzudringen, Antworten auf Fragen zum Universum zu finden, Nationen mit der Wissenschaft zusammenzubringen und Wissenschaftler/innen und Ingenieure/innen der Zukunft auszubilden.
„Unsere Umwelt zu verstehen ist seit Urzeiten ein grundlegendes Interesse der Menschen“, so Professor Charlton. „Bei CERN arbeiten alle zusammen, ungeachtet von Nationalität, Geschlecht, Religion oder anderer Unterschiede, weil wir alle Antworten auf diese grundlegenden Fragen bekommen wollen.“
Im Laufe der Jahre haben sich dort Tausende von Wissenschaftler/innen und Physiker/innen die Klinke in die Hand gedrückt.
Als der LHC im September 2008 mit weltweiter Beachtung in Betrieb genommen wurde, wagten sich Wissenschaftler/innen auf unbekanntes Terrain.
Der Apparat in ihrer Mitte war in der Lage, so viele Daten zu erzeugen, um damit in jeder Sekunde 100.000 CDs zu füllen. Die Herausforderung würde darin bestehen, diese Daten zu filtern, um das einzige Standardmodellteilchen zu finden, das man noch nie gesehen hatte.
In jeder Sekunde kam es zu etwa 800 Millionen Frontalkollisionen in beinahe Lichtgeschwindigkeit. Wenn Wissenschaftler/innen alle Daten gesammelt hätten, so wäre das damit vergleichbar gewesen, 50 Milliarden Telefonanrufe gleichzeitig zu tätigen oder 600 Jahre lang Musik zu hören.
„Nur ein Bruchteil dieser Kollisionen war interessant für uns, daher mussten wir uns sehr schnell auf die interessantesten Vorgänge beschränken“, so Professor Charlton.
Anfänglich gab es Anlaufsschwierigkeiten. Sechsunddreißig Stunden, nachdem der LHC in Betrieb genommen war, musste er wieder abgeschaltet werden, weil es ein defektes Elektrokabel zwischen zwei Magneten gab, das aufgrund des hohen elektrischen Widerstandes, der hindurch floss, geschmolzen war.
Der LHC wurde schließlich im November 2009 erneut gestartet, nachdem er wieder instand gesetzt und ein neues Sicherheitssystem eingebaut worden war.
Unser Leben ohne das Higgs-Boson-Teilchen wäre anders verlaufen. Teilchen wären weiterhin durchs Universum geflogen, ohne jemals zu verklumpen, um etwas Neues zu bilden.
„Es ist erstaunlich, dass wir nur einen Bruchteil dessen verstehen, was das Universum ausmacht“, so Professor Charlton. „Die nächsten Daten, die wir beim LHC erheben, könnten uns einen Einblick ins dunkle Universum (die dunkle Materie) gewähren, das wir nicht verstehen.“
Der LHC wurde im Februar letzten Jahres abgeschaltet, da er umfassend überholt werden muss. Wenn er im Januar wieder in Betrieb genommen wird, können die Wissenschaftler/innen nur erahnen, was sie erwartet.
Doch ihnen allen ist klar, dies ist erst der Anfang.
„Da draußen gibt es noch viele ungelöste Rätsel“, so Professor Charlton. „Jetzt wissen wir allerdings, dass der leere Raum nicht so ist, wie wir dachten. Leerer Raum enthält etwas, ein unsichtbares Higgs-Feld, wo es Wechselwirkungen mit allen Teilchen gibt. Die Entdeckung des Higgs-Boson-Teilchens ist ein gewaltiger Schritt nach vorn, wenn es darum geht, die tiefsten Strukturen der Natur zu verstehen.“
Als Professor für Teilchenphysik, der sich gründlich mit den Grundstrukturen von Materie und Kräften beschäftigt, glaubt er, dass nichts ausgeschlossen werden kann.
„Alle wissenschaftlichen Probleme kann man anpacken“, so seine Aussage. „Manchmal mag es Jahre oder Jahrzehnte dauern, bis sie gelöst sind, aber es sollte möglich sein, Antworten darauf zu finden, wie die Dinge funktionieren. Um jedes neue Rätsel zu verstehen, braucht man Zeit und Energie und Menschen und Geld.“
Inzwischen hat man sich bei CERN, als großem internationalem Labor, noch etwas Größeres vorgenommen.
Es soll eine neue unterirdische Apparatur gebaut werden, die viermal so groß wie der große Teilchenbeschleuniger wäre. Der einhundert Kilometer lange Tunnel, der ganz Genf umgeben würde, hätte Energiewerte, wie man sie noch nie erlebt hat.