Im Herbst nahm der Arbeitskampf am Raffineriestandort Grangemouth eine neue Wendung.
Als bekannt wurde, dass der Petrochemieanlage im schottischen Falkirk nach einer mit der Gewerkschaft Unite geschlossenen Vereinbarung doch keine Schließung drohte, kam es zum Vorwurf einer Mobbing- und Einschüchterungskampagne, die an die Militanz britischer Gewerkschaften in den Siebzigern und Achtzigern erinnerte.
Nach Aussage eines leitenden Managers von INEOS, dem Betreiberunternehmen von Grangemouth, soll ihm die Gewerkschaft Unite einen Mob von Demonstranten vor die Haustür geschickt haben, weshalb er um die Sicherheit seiner Frau und seiner beiden kleinen Kinder fürchtete.
Die Tochter eines anderen Direktors, die in der Hunderte Kilometer von Grangemouth entfernten englischen Grafschaft Hampshire lebt, sagte zwischenzeitlich aus, sie habe ein Plakat erhalten, auf dem ihr Vater steckbrieflich gesucht wurde.
David Cameron bezeichnete diese Anschuldigungen als „ausgesprochen schockierend“ und verlangte von der Labour-Partei, den Behauptungen über die Gewerkschaft nachzugehen, da diese der größte Geldgeber der Partei ist.
Laut Unite-Generalsekretär Len McCluskey sei diese Taktik „rechtmäßig und legitim“ er fügte hinzu: „Wenn ein Unternehmenschef unserer Meinung nach Beschäftigte, deren Familien und Gemeinden unfair attackiert, dann denken wir, dass die Idee, gesichtslose Direktoren können sich in grüne Vororte zurückziehen und mit diesem Verhalten ungestraft davon kommen, falsch ist.“
Hier spricht INEOS-CEO Jim Ratcliffe nun darüber, wie er der Gewerkschaft gegenübertrat und was die britische Industrie von einem aufstrebenden Deutschland lernen kann.
INEOS-CEO Jim Ratcliffe über den arbeitskampf in Grangemouth und militante gewerkschaften
Gegen Ende 2005 erwarb INEOS Innovene, den Petrochemieteil von BP, zu einem Preis von 9 Milliarden USD. Damit vervierfachte sich die Größe von INEOS von einem Tag auf den anderen. Einige der größten Industriestandorte weltweit gehörten nun zum Unternehmen, darunter Köln in Deutschland.
Drei Monate später besichtigte ich den Kölner Standort, der ungefähr so groß wie Grangemouth, aber viel profitabler ist. Dabei traf ich den Betriebsratsvorsitzenden. Er heißt Siggi, ist etwa 1,95m groß und hat den Ruf, die Belegschaft energisch, aber fair zu vertreten.
Nach einem fünfzehnminütigen Kennenlerngespräch sagte er: „Jim, ich mag Ihr Bonussystem nicht.“ Verblüfft fragte ich ihn: „Aber warum denn, Siggi? Unser Bonussystem ist doch sehr großzügig.“ Er antwortete: „Ich fände es besser, wenn Sie das Geld für den Standort, für Investitionen, Wartungsmaßnahmen und Anstriche verwenden, damit wir sicher sein können, dass es noch Arbeit für die Kinder und Enkelkinder unserer Beschäftigten gibt.“
An diesem Standort gab es noch nie einen Streik, nicht einmal andeutungsweise. Die Gewerkschaft, die Beschäftigten und INEOS verfolgen ein gemeinsames Ziel, nämlich eine auf lange Sicht erfolgreiche Zukunft. Die Beschäftigten haben hochqualifizierte Jobs, INEOS erwirtschaftet hohe Renditen und investiert in den Standort.
Leider sind Chemieanlagen in Deutschland ausnahmslos in einem besseren Zustand und arbeiten effizienter als vergleichbare in Großbritannien. Bedauerlicherweise muss man auch zugeben, dass die Chemieindustrie in Deutschland besser ist als in Großbritannien, wo eine Reihe von Schließungen im Nordosten und Nordwesten vorgenommen wurde.
Im Petrochemiewerk Grangemouth in Falkirk fehlte der konstruktive Dialog, den wir in Köln fanden.
In großen Firmen, in denen die Kommunikation mit 1.000 Beschäftigten schwierig ist, können Gewerkschaften eine wichtige Rolle spielen. Sie können mit dem Management Jahresprämien aushandeln, Beschwerdefälle bearbeiten sowie bei komplizierten Veränderungen im Arbeits- oder Pensionsrecht aufklären und beraten. Meiner Meinung nach müssen sie jedoch verstehen, dass ein Unternehmen rentabel arbeiten muss, um überleben zu können, dass die Welt sich stetig wandelt, sodass Unternehmen sich anpassen müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben und schließlich, dass ihre Funktion darin besteht, die langfristige Beschäftigung ihrer Mitglieder zu sichern.
In diesem Jahr drohte Unite dreimal mit Streik am Standort Grangemouth: im Februar, Juli und Oktober. Im Februar forderte die Gewerkschaft eine Lohnerhöhung von 3,9 Prozent; ein Niveau, das sich das Unternehmen einfach nicht leisten konnte. Uns blieb keine andere Wahl als einzulenken, da der Standort nicht auf einen Streik vorbereitet war und davon einfach zu großen Schaden genommen hätte. Unite-Generalsekretär Len McCluskey rief Ende Juli persönlich im Werk an und verlangte die Wiedereinstellung von Stevie Deans, der beurlaubt worden war, da Tausende interner E-Mails der Labour-Partei in unserem Computersystem gefunden worden waren. „Ansonsten,“ so drohte McLuskey, würde er „Grangemouth zum Stillstand bringen“. Wiederum hätte ein Streik damals zu viel Schaden angerichtet. Schließlich brachte im Oktober ein Tropfen das Fass zum Überlaufen. Unite erklärte, wegen der Ermittlungen gegen Stevie Deans in Streik zu treten. Die mangelnde Gesprächsbereitschaft hinsichtlich der Zukunftsaussichten des Standorts war allerdings kritisch und viel zerstörerischer.
Ohne Änderungen hätte Grangemouth nicht überlebt. Dem Unternehmen war es nicht gelungen, sich an ein verändertes Umfeld anzupassen und sowohl effizienter als auch wettbewerbsfähiger zu sein, weil die Gewerkschaft den Standort fest im Griff hatte. Auf jeden Beschäftigten am Standort Falkirk entfallen pro Jahr beinahe 100.000 GBP an Kosten bei einem Gehalt von 55.000 GBP. Hinzu kommen Rentenbeiträge in Höhe von 35.000 GBP, zuzüglich Boni und Sozialversicherungsbeiträge. Aufwendungen in dieser Höhe sind auf Dauer in unserer Branche einfach nicht haltbar.
Es passt nicht, dass die Gewerkschaften in Großbritannien uns als Feind sehen. Wir sind das nicht. Es ist weder notwendig noch passend, Zwietracht zu säen und die Beschäftigten schlecht zu vertreten oder ständig mit Arbeitskampfmaßnahmen zu drohen. Es ist nicht angebracht, in Schreiben von „Brüdern und Schwestern“ (so lautet die Anrede in Gewerkschaftsmitteilungen an ihre Mitglieder am Standort), Skeptiker oder jeden, der es wagt, sich gegen die Gewerkschaft zu stellen, als Streikbrecher zu bezeichnen. Das ist ein typisches Mobbingmerkmal. Es ist nicht nur fehl am Platz, sondern wirkt auch einschüchternd, um Beschäftigte zu unterdrücken, eine andere Meinung zu haben. Diese Einstellung stimmt heute nicht mehr mit den gesellschaftlichen Werten überein, in denen Meinungsfreiheit geschätzt wird.
Während des Arbeitskampfes verschickte eine Mitarbeiterin der Buchhaltung, die angesichts des Paukenschlages von Seiten der Gewerkschaft besorgt war, eine E-Mail an den gesamten Standort. Darin schrieb sie, dass sie um ihren Arbeitsplatz fürchtete und bestätigte, dass sich das Unternehmen in finanziellen Schwierigkeiten befand (sie erstellte jeden Monat die Abrechnungen). Daraufhin erhielt sie unverschämte anonyme Anrufe, bei denen die Anrufer einfach den Hörer auflegten.
Bei INEOS wurde dieser kleine Zwischenfall heiß diskutiert. Viele von uns waren bestürzt, dass eine Mitarbeiterin unserer Firma, eine Mutter von drei Kindern, ihre Meinung und Bedenken nicht offen äußern durfte. Das führte auch letztendlich dazu, dass wir uns entschlossen, nur eine Lösung für den Standort zu akzeptieren, die Veränderungen in vielen Bereichen, vor allem jedoch hinsichtlich der Einstellung der Beschäftigten und der Arbeitsprozesse bringen würde.
Die Probleme mit der Gewerkschaft am Standort Grangemouth reichen bis in die siebziger Jahre zurück. Es ist erst drei Wochen her, dass ich mit einigen Freunden mit dem Mountainbike auf felsigen Gebirgspfaden in den italienischen Hochalpen unterwegs war. Einer der Teilnehmer war Tony Loftus, Operations Director beim Vorgängerunternehmen von INEOS, Inspec. In einem Gespräch über die Probleme in Grangemouth erzählte er, dass seine erste Anstellung nach dem Abschluss seines Chemiediploms an der Universität Manchester Anfang der siebziger Jahre eine Traineestelle in Grangemouth gewesen sei. Ganz spontan meinte er: „Als ich in Grangemouth war, gab es keine Probleme, keine Streiks und das Management arbeitete nach Vorschrift.“ Seitdem hat sich wenig verändert und heute müht sich der Standort im Vergleich zu den deutschen Pendants richtig ab.
Obwohl Gewerkschaften damals keine Rolle in unserem Familienleben spielten, wuchs ich in meinen jungen Jahren in einem Arbeiterviertel auf. Bis zu meinem zehnten Lebensjahr wohnten wir in Failsworth, einem nördlichen Vorort von Manchester, in der Nähe von Oldham. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich von meinem Fenster aus mehr als 100 Fabrikschlote zählen konnte – so habe ich wahrscheinlich zählen gelernt. Wir wohnten damals in einer kleinen Sackgasse, die Boston Close hieß, in einer sehr angenehmen Sozialwohnung. Es gibt sie heute noch. Ich kann mich daran erinnern, wie mein Vater mir erzählte, dass er als Kind auf jeden Baum in Miles Platting gestiegen war, einem Nachbarvorort, in dem er aufgewachsen war. Erst als Teenager wurde mir klar, dass es keine Bäume in Miles Platting gab. Zwischen diesem Ort und den grünen Vororten der Grafschaften im Londoner Süden liegen Welten.
Diese Gemeinden in Lancashire waren Ende des 18. Jahrhunderts entstanden. Arbeiter wanderten damals vom Land in die Stadt ab, suchten dort Beschäftigung und wollten ihr Glück in der industriellen Revolution machen, die mitten in Lancashire begann. Großbritannien erfand das Produktionskonzept. In meinem Familienstammbaum gibt es einige Vorfahren, die von den Feldern von Derbyshire nach Manchester gewandert sind. Alle unterschrieben damals mit einem Kreuzchen.
Wie viele meiner Landsleute habe ich eine Affinität zur Industrie. Ich bin ein starker Befürworter, dass in einem großen Wirtschaftsraum wie Großbritannien auch tatsächlich Produkte hergestellt werden. Das heißt nicht, dass ich etwas gegen Dienstleistungen hätte, das habe ich nicht. Aber ich bin davon überzeugt, dass eine starke, ausgeglichene Wirtschaft einen robusten Industriesektor braucht. Wir geben einen Großteil unseres Einkommens für Waren aus, sei es für Waschmaschinen oder Handtaschen (weiß der Himmel, warum so viele gebraucht werden) und es ist einfach logisch, dass es besser ist, einige dieser Waren selbst herzustellen, als sie zu importieren.
In den vergangenen 20 Jahren litt Großbritannien unter dem Niedergang seiner Industrieanlagen. Eine typische Wirtschaft ist in drei Sektoren geteilt: Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungen. Normalerweise ist die Landwirtschaft relativ klein und macht weniger als 10 Prozent aus; Dienstleistungen bilden normalerweise den größten Sektor; und auf die Industrie entfallen etwa 20 Prozent, wie in Deutschland.
Vor 20 Jahren lag Großbritannien nur knapp hinter Deutschland, etwa zwei bis drei Prozent. Inzwischen ist der Industriesektor in Großbritannien nur noch halb so groß wie in Deutschland.
Man kann sich natürlich die Frage stellten, warum es zu diesem Niedergang kam, und ist das überhaupt wichtig? Natürlich ist das wichtig! Eine Wirtschaft, die zu stark von Dienstleistungen abhängt, ist anfällig. Deutschland erholte sich viel schneller und besser von der Rezession 2008/2009 als Großbritannien. Ausschlaggebend hier ist auch die geografische Trennung. Die Industrie ist vor allem in Mittel- und Nordengland beheimatet und die Gemeinden dort litten unter der hohen Arbeitslosigkeit. London ist dienstleistungsorientiert, und sehr erfolgreich. Aber dieser Sektor ist nicht allein tonangebend.
Die britische Regierung sitzt in einer Dienstleistungsumgebung, also London, und denkt, die Zukunft liege allein in der Londoner City und ihrer Liebesaffäre mit dem Finanzsektor. Wir sollten uns Deutschland als Vorbild nehmen. Dort hält man an einer erfolgreichen Industrie fest und hat erkannt, wie wichtig sie für eine ausgeglichene Volkswirtschaft ist.
Meiner Ansicht nach geht der schnelle Niedergang der britischen Industrie darauf zurück, dass die Regierungen in der Vergangenheit ihre Wichtigkeit einfach nicht erkannt haben.
Großbritannien bietet keine umwerfenden Verkaufsargumente, die Industrien anziehen. Zwar besitzt INEOS einige Standorte in Großbritannien, aber sie sind nicht so rentabel wie unsere Standorte in Deutschland, Belgien und insbesondere in den USA. In Großbritannien sind die Energiekosten hoch, die Arbeitskräfte nicht so gut qualifiziert wie in anderen Ländern, die Rentenbeiträge hoch und die Gewerkschaften können einem das Leben schwer machen. Historisch gesehen hat sich die Regierung in Großbritannien nie wirklich auf die Industrie eingestellt. In den USA hingegen gibt es hervorragend ausgebildete Arbeitskräfte, die meisten unserer Standorte sind nicht gewerkschaftlich organisiert, die Energiekosten betragen nur einen Bruchteil derer in Großbritannien und es bietet sich ein enormer Absatzmarkt. Deutschland kann einfach gut produzieren – wie wir es einmal konnten.
Es gibt keinen Grund, weshalb die Industrie in Großbritannien nicht wieder aufleben sollte. Die derzeitige Regierung erkennt immer mehr ihre Bedeutung für eine robuste Wirtschaft. Wir sollten nie vergessen, dass Großbritannien die industrielle Produktion schließlich erfunden hat.
Kommen wir wieder zu unserem Hauptthema zurück – zu den Gewerkschaften und den Schlagzeilen, welche die Frage stellten: „Gewerkschaften, gut oder böse?” Ich behaupte immer noch, dass ein Verhalten der Gewerkschaften im Stil der Siebziger in den Abgrund führt. Hingegen ist Siggi, der Betriebsratsvorsitzende in Deutschland, im 21. Jahrhundert angekommen. Er stellt die Dinge in Frage, er testet, er rüttelt den Baum und verhandelt hart, aber er überredet INEOS immer wieder dazu, zu investieren. Eine gute Gewerkschaft ist gut für Arbeitgeber – und für Arbeitnehmer.