Niemand kennt die genauen Auswirkungen, die Schiefergas auf Europa haben könnte, aber der Kontinent sitzt auf erheblichen Reserven. Diese können durch den als ‘Fracking’ bekannten Prozess angezapft werden. INEOS geht davon aus, dass die EU diese Möglichkeit nicht ausschlagen kann, wenn sie ernsthaft mit Amerika konkurrieren will. Der Zugang zu Schiefergas hat dort die Energiepreise schon drastisch reduziert und eine industrielle Wiederbelebung bewirkt, so dass Arbeitsplätze und Produktionsprozesse, die nach China ausgelagert wurden, nun wieder in die USA zurückkommen.
Während Europa zögert, ist Amerika bereits dabei, die Früchte von Schiefergas für Energiekosten und –Sicherheit zu ernten. Wettbewerbsfähige Rohstoffe unterstützen einen Großteil seiner verarbeitenden Industrie. In diesem Bereich gibt es noch viel zu holen.
Unternehmen der chemischen Industrie aus aller Welt strömen jetzt nach Houston, um neue Gas-Cracker zu bauen, alte wieder in Betrieb zu nehmen oder bestehende Anlagen zu erweitern und sich die großen Mengen an inländischem Erdgas zunutze zu machen. Es enthält die wichtigen Rohstoffe, die petrochemische Industrie zur Herstellung von Kunststoffen und Lösungsmitteln benötigt.
Die American Chemical Council beurteilt dies als eine der spannendsten Entwicklungen der US-amerikanischen Energiewirtschaft in den vergangenen 50 Jahren und als einen Grundstein für die industrielle Wiederbelebung Amerikas.
Nach vielen Jahren, in denen man gegenüber den Entwicklungsländern das Nachsehen hatte, verlagert eine wachsende Anzahl amerikanischer Firmen ihre Produktion nun wieder zurück in die Vereinigten Staaten. Das Blatt ist derzeit möglicherweise im Begriff, sich zu wenden. PricewaterhouseCoopers spricht von ‘Homecoming’ (Heimkehr).
Auf der anderen Seite des Atlantiks, in Europa, sieht die Sache anders aus.
Auch Europa ist in der Lage, die bahnbrechende Technologie, mit der das in Schiefergestein enthaltene Erdgas freigesetzt werden kann, einzusetzen. Aber sie bleibt bisher ungenutzt, niemand weiß, für wie lange.
Frankreich, das stark in die Atomkraft investiert hat, sieht sich einem starkem Widerstand gegen das Schiefergas aus der Atomindustrie gegenüber, und Deutschland, das sein Geld in riesige Windparks gesteckt hat, will nicht den Zorn der Lobby für erneuerbare Energie auf sich ziehen. Somit dauert die Debatte an.
INEOS will nicht länger warten und hat ein Abkommen mit den USA über die Belieferung der europäischen Betriebe mit Rohstoffen geschlossen, um im weltweiten Olefins & Polymers-Geschäft weiterhin wettbewerbsfähig zu bleiben.
Ab 2015 erhält INEOS Olefins & Polymers in Norwegen US-amerikanisches Ethan, ein wesentlicher Bestandteil für die Ethylen-Produktion.
„Wir sind ein globales Unternehmen, das die Weltmärkte beliefert. Daher sind wettbewerbsfähige Rohstoffpreise von grundlegender Bedeutung, wenn wir unser Geschäft und unsere Arbeitsplätze hier in Zukunft sichern wollen”, äußert Magnar Bakke, Werksleiter INEOS Olefins & Polymere Norwegen.
Für INEOS komplettiert der Rohstoffimport von 800.000 Tonnen Ethan aus den USA das Portfolio von Rohstoff-Vereinbarungen für die europäischen Gas-Cracker. Es stärkt die Wettbewerbsposition als Ethylen-Produzent in Europa für die absehbare Zukunft deutlich.
Die Vertragsverhandlungen haben insgesamt zwei Jahre gedauert – von der ursprünglichen Idee bis zur Unterzeichnung der Verträge. INEOS wird bis 2015 nicht finanziell davon profitieren. Aber dann wird der Vorteil nicht unerheblich sein.
„Wir könnten bereits jetzt anfangen, das Ethan abzunehmen, aber die entsprechenden Systeme und Infrastrukturen sind noch nicht eingerichtet”, erklärt David Thompson, Procurement Director INEOS O&P Europe. “Es muss zum Beispiel noch ein Export- Terminal gebaut werden”.
Vor nicht allzu langer Zeit war Amerika auf LNG-Importe angewiesen.
Nun ist das Land im Begriff, ein großer Gas-Exporteur zu werden.
Hydraulisches Bohren und große Fortschritte bei der hydraulischen Frakturierung von Schiefergestein haben den Prozess wirtschaftlich gemacht.
Öl- und Gas-Unternehmen haben vorgemacht, wie Öl und Gas aus Gestein extrahiert werden können, obwohl dies als zu kompliziert und teuer galt. Grob gesagt warden lange, dünne Spalten im Schiefer und anderem Gestein aufgebrochen und das Gas aus dem Fels gelöst, indem Wasser, Sand und Chemikalien mit hohem Druck in den Boden gepumpt werden.
„Diese Technologie stellt einen wichtigen technischen Durchbruch dar”, sagt Thompson.
Die USA haben nun ein ganz anderes Problem: sie haben jetzt so viel Gas, dass sie nicht wissen, wohin damit. Infolgedessen fallen die Gaspreise in den USA und ziehen damit auch die Ethan-Rohstoff-Preise nach unten.
Eine Möglichkeit der Preisstabilisierung besteht darin, neue Kunden zu gewinnen. Und INEOS ist einer von ihnen.
„Im Moment wird das Gas auf dem lokalen Markt in Amerika abgesetzt, aber der Deal mit uns stellt einen neuen Weg dar, wie die USA das Ethan, das in Hülle und Fülle im ‘nassen Schiefergas’ gefunden wird, verkaufen können”, so Thompson.
In den USA werden Stimmen laut, die das US-Gas in den USA behalten möchten. Dow Chemical zum Beispiel befürchtet, dass unkontrollierte Exporte zu Steigerungen der Inlandspreise führen und auch Investitionen in die US Produktion bedrohen könnten.
„Die Debatte ist noch nicht abgeschlossen”, sagt David Thompson.
Kurz vor Weihnachten hat INEOS seine 15-Jahres-Verträge mit den drei Unternehmen geschlossen, die für das Bohren, die Verteilung, die Verflüssigung und die Verschiffung von Ethan aus Amerika an den INEOS-Standort in Rafnes in Norwegen verantwortlich sein werden.
Das Ethan wird vom Marcellus-Schiefervorrat in den Appalachen nach Marcus Hook, Pennsylvania, geleitet. Von dort wird es nach Europa verschifft.
Vor Ort wird es dann in einem neuen Ethan-Tank gespeichert, der neben den vorhandenen INEOS Speichern für lokales Ethan und LPG gebaut wird.
Der aktuelle Preis bestimmt dann, welchen Rohstoff INEOS zur Ethylenherstellung verwendet – Ethan oder LPG – das in Tausenden von Produkten eingesetzt wird, die wir jeden Tag verwenden. Damit ist INEOS dann äußerst unabhängig.
Thompson unterstreicht, dass der Versorgungsvertrag mit Range Resources Appalachia LLC auch die Wettbewerbsposition von INEOS als Ethylen-Produzent in Europa für absehbare Zeit stärkt.
Und aufgrund der europäischen Politik der CO2- Reduzierung, welche die Energiepreise in Europa voraussichtlich in die Höhe treiben wird, ist das wichtiger denn je.
In einem Bericht an den EU-Unterausschuss des britischen Oberhauses House of Lords hat INEOS davor gewarnt, dass steigende Energiekosten die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Hersteller auf dem Weltmarkt bedrohen.
Besonders gefährdet seien laut Bericht die chemischen Industrien, die stark auf fossile Brennstoffe für die Produktion angewiesen sind.
„Wir sind derzeit sehr anfällig für Energiepreisschwankungen”, unterstreicht Tom Crotty, INEOS Group Director.
„Wir verkaufen unsere Produkte auf hart umkämpften internationalen Märkten und können erhöhte Kosten nicht an unsere Kunden weitergeben.”
„Aber wir können es uns auch nicht leisten, in Ländern mit nicht wettbewerbsfähigen Energiepreisen zu operieren.”
Laut INEOS sollten – wenn Europa es mit der Reduzierung des CO2-Ausstoßes ernst meint – energieintensive Branchen vor starken Preiserhöhungen geschützt und die Schaffung bezahlbarer CO2-armer Energiequellen vorangetrieben werden.
„Andernfalls würde die Produktion aus Europa hin zu wettbewerbsfähigeren Standorten abwandern, was zum Verlust von Arbeitsplätzen, Investitionen und Steuereinnahmen führt”, erläutert er.
„CO2-Reduzierung sollte nicht gleichzusetzen sein mit Deindustrialisierung,” sagte Tom Crotty.
„Das Ziel muss sein, Industrien mit grüner Energie zu versöhnen, nicht die Industrien zu vergraulen”, fügt er hinzu.
Energieintensive Industrien seien keine aussterbenden Industriezweige, die Umweltverbesserungen im Wege stünden.
„Sie sind ganz im Gegenteil eine wichtige Quelle für Rohstoffe und Innovationen, die zur Realisierung einer grünen Wirtschaft notwendig sind”, sagt er.
Pro Tonne CO2, die in der chemischen Industrie anfällt, werden schätzungsweise mehr als zwei Tonnen durch die Produkte eingespart. Dazu zählen Katalysatoren, Isolierungen, Komponenten für Windturbinen und Solarzellen.
INEOS vertritt die Ansicht, dass Deutschland und Frankreich Richtlinien erlassen haben, die der Industrie das Vertrauen für die notwendigen Investitionen und Fortschritt geben.
Deutschland biete demnach erhebliche Steuerermäßigungen für Energie, während Frankreich auf Langzeitenergieverträge setze.
„Großbritannien riskiert derzeit, abgehängt zu werden”, schätzt Andrew Mackenzie von INEOS ChlorVinyls die Lage ein. „Die britischen Strompreise sind im Vergleich zu anderen europäischen Ländern recht hoch, und unsere Gaspreise sind deutlich höher als in außereuropäischen Ländern.”
„Dieses Gefälle in der internationalen Wettbewerbsfähigkeit wird sich im nächsten Jahrzehnt durch die von der Regierungspolitik verursachten Energiepreissteigerungen drastisch weiter erhöhen.”
Er beurteilt Schiefergas, das aufgrund seines niedrigen Kohlenstoff-Footprints allgemein als die wichtigste Brücke zu den zukünftigen erneuerbaren Energien betrachtet wird, als eine wertvolle neue Ressource, die Großbritanniens Energiesicherheit stabilisieren und zu wettbewerbsfähigeren Preisen in Großbritannien führen würde.
Testbohrungen für Schiefergas in Großbritannien, das OnShore-Reserven von geschätzten 5,6 Billionen Kubikmeter alleine im Nordwesten besitzt, wurden nach anfänglichen Widerständen im Mai 2011 nun in Lancashire wieder aufgenommen.
Das ist eine positive Entwicklung für INEOS.
„Unser Erfolg in Großbritannien hängt vom Zugang zu wettbewerbsfähigen Energie- und Rohstoffvorräten ab”, erklärt er.
„Der Zugang zu kostengünstigeren Rohstoffen und Energien würde die Aufstellung der britischen Petrochemie-Industrie grundlegend ändern und ihr helfen, auf einem globalen Markt zu konkurrieren.”
In Amerika ist Gas – dank des Schiefergas-Booms – jetzt fünfmal so billig wie in Großbritannien.
„Ähnliche Gaspreise in Großbritannien würden die Kosten der Chlorproduktion am Standort Runcorn, der derzeit so viel Strom wie die Stadt Liverpool braucht, um fast 60 Millionen Euro pro Jahr senken”, rechnet Mackenzie vor.
Testbohrungen für Schiefergas in Großbritannien wurden durch die Regierungskoalition gestoppt, nachdem Cuadrilla Resources Ltd ein kleineres Beben in der Nähe von Blackpool verursacht hatte.
Eine spätere Untersuchung durch drei bedeutende Geologen versicherte der Regierung dann, dass Fracking sicher ist.
„Es wurde einfach durch die Medien übertrieben”, berichtet Tom Crotty. „Das ‘Erdbeben’ war geringer als die Erschütterungen, die alltägliche Erdbewegungen in alten Minen hervorrufen.”
„Im Bericht der Geologen stand, dass es kein Problem war, aber dass das Unternehmen dafür sorgen sollte, dass es nicht wieder passiert.”
INEOS ist darum an einem Abkommen mit Cuadrilla interessiert.
„Sie planen das Gas als Brennstoff zu verwenden. Aber wie leicht es dazu einsetzbar ist, hängt davon ab, wie es zusammengesetzt ist”, so Tom Crotty.
Bevor Erdgas kommerziell verkauft werden kann, müssen bestimmte Komponenten des Gemisches, genannt Fraktionen, extrahiert werden. Darunter befinden sich Kohlenwasserstoffe wie Ethan, Butan und Propan, die als Rohstoffe in der chemischen Industrie sehr gefragt sind.
„Cuadrilla kennt die Zusammensetzung des Gases noch nicht, weil sie es noch nicht aus dem Boden geholt haben. Aber wenn sie diese Gase extrahieren wollen, können wir ihnen dabei helfen”, meint Crotty.
„Wir können die Gase gewinnen, Chemikalien aus ihnen machen, wertvolle Produkte daraus herstellen, die verwendet und recycelt werden können”, äußert er.
„Wenn es nach uns geht, muss nichts verschwendet werden.”
INEOS tritt massiv gegen die Verschwendung ein.
„Ethan ist der wertvollste chemische Rohstoff der Welt, weil man daraus so viele Dinge machen kann. Aber das meiste davon wird verbrannt, weil es nicht aus dem Gasstrom extrahiert wird”, macht er deutlich.
INEOS besitzt derzeit zwei der vier Gas-Cracker in Europa.
Einer steht in Norwegen, der andere im schottischen Grangemouth.
Schon vor etwa 30 Jahren wurde der Grangemouth-Cracker für reines Ethan von den Nordsee-Bohrinseln gebaut.
In den letzten 15 Jahren ist die Menge von als Feuerzeug-Gas genutztem Ethan jedoch gesunken und wurde durch schwerere Gase mit größerem Kohlenstoffgehalt ersetzt.
„Durch Verkokung verstopfen die Ethan-Cracker. Man muss sie komplett stilllegen, damit man sie zur Reinigung betreten kann. Das ist sehr ineffizient”, erklärt Tom Crotty.
INEOS hat kürzlich Millionen in seinen Cracker in Grangemouth investiert, damit dieser besser mit dem schwereren Rohstoff umgehen kann.
Derzeit sieht es so aus, als könne Grangemouth nicht ohne größere Investitionen am Standort von dem Ethan aus günstigem US-Amerikan schen Schiefergas profitieren.
Studien werden derzeit durchgeführt, um die Optionen auszuloten.
„Wir müssten einen neuen Anleger, Löschanlagen und Lagertanks bauen”, so Crotty.
„In Norwegen sind wir schon weit. Und wir werden in den Bau von weiteren Einrichtungen investieren, damit wir in Zukunft mehr davon abnehmen können.”