EUROPÄISCHER INDUSTRIEGIPFEL 2024
ES BESTEHT dringender Handlungsbedarf, um Europa daran zu hindern, weiter schlafwandlerisch seine Chemieindustrie, Arbeitsplätze und Investitionen ins nichteuropäische Ausland zu verlagern. Der Vorstandsvorsitzende von INEOS, Sir Jim Ratcliffe, warnte davor, dass bald wenig von einer für die Sicherheit Europas strategisch wichtigen Industrie übrig bleibt, wenn die Europäische Kommission nichts gegen die rasant steigenden Energiekosten und die belastende Kohlenstoffbesteuerung unternimmt oder Investitionen in neue Chemieanlagen fördert.
„Die Petrochemie Europas wurde schon lange von den USA, China und dem Nahen Osten abgehängt, weil sie sich kaum noch im Wettbewerb halten kann“, erklärte er den Branchenführern, die sich anlässlich des Europäischen Industriegipfels in Antwerpen versammelt hatten.
Die europäische Chemieindustrie war einst die größte der Welt.
Obwohl sie im Laufe der Jahre gegenüber China, den USA und dem Nahen Osten an Boden verloren hat, stellt sie mit Umsätzen in Höhe von einer Billion Euro und 20 Millionen Arbeitsplätzen nach wie vor einen der wichtigsten Sektoren Europas dar.
Sir Jim befürchtet allerdings, dass sich dies im Handumdrehen ändern könnte, wenn die Europäische Kommission nicht begreift, was auf dem Spiel steht.
„Die chemische Industrie produziert viele Grundstoffe für alle Fertigungsunternehmen in ganz Europa, die für diese extrem wichtig sind“, erklärt er. „Sie bietet eine Versorgungssicherheit, die weit über den reinen Chemiesektor hinausreicht und für Europa von strategischer Bedeutung ist.“
Im Rahmen des kürzlich stattgefundenen Gipfeltreffens wies er auf die Probleme hin, mit denen die Branche konfrontiert ist, und sprach über seine eigenen Erfahrungen in Bezug auf die Schwierigkeiten, grünes Licht für eine Investition von 4 Milliarden EUR in eine überlegene Chemieanlage zu erhalten, in der modernste Spitzentechnologien zum Einsatz kommen.
Das unter dem Namen „Project One“ bekannte Projekt stellt die größte Investition im europäischen Chemiesektor seit einer Generation dar.
Aber ein Jahr nach Beginn der Arbeit, mit 10.000 beschäftigten Projektmitarbeitenden weltweit, wurde die Genehmigung aufgrund der Stickstoffwerte der Anlage zurückgezogen. „Diese Werte entsprachen einem Familiengrillfest im Naturschutzgebiet, das einmal im Jahr stattfindet“, sagt er.
Laut Sir Jim werden hohe Energiekosten und Kohlenstoffsteuern der Industrie das Genick brechen und Investitionen aus Europa fernhalten.
Nichts davon ist seiner Meinung nach sinnvoll.
„Die Kohlenstoffsteuer gilt für 95 % aller Importe nicht“, erläutert er. „Also tun wir der Welt keinen Gefallen, wenn wir in Bezug auf die Emissionen die vergleichsweise hochwertige Produktion hier in Europa durch eine minderwertigere, weniger stark regulierte Produktion in anderen Teilen der Welt ersetzen.“
INEOS zahlt aktuell rund 150 Millionen EUR Kohlenstoffsteuer. Allerdings wird diese Summe bis zum Jahr 2030 voraussichtlich auf 2 Milliarden EUR ansteigen.
„Das ist einfach nicht tragbar“, erklärt er. Das größte Problem, mit dem die Chemieindustrie konfrontiert ist, stellen zweifelsohne die Energiekosten dar, da sich Europa gegen Onshore-Öl- und Gas und gegen Kernenergie entschieden hat.
„Die Erdgaskosten sind in Europa fünfmal so hoch wie in Amerika“, sagt Sir Jim. „Amerika hat billige Energie, wir haben teure Energie. Die USA sind heute Energieselbstversorger. Wir sind es nicht.“
Es ist nicht das erste Mal, dass Sir Jim seine Besorgnis über die Zukunft der Chemieindustrie in Europa zum Ausdruck bringt.
Im Mai 2014 schrieb er einen offenen Brief an José Manuel Barroso, dem damaligen Präsidenten der Europäischen Union.
„Leider haben sich viele meiner Befürchtungen später als wahr erwiesen, wenn man die aktuelle Situation, in der sich die Branche jetzt wiederfindet, betrachtet“, sagte er.
Der Gipfel, der in der von INEOS und BASF gemeinsam genutzten Chemieanlage in Antwerpen abgehalten wurde, endete mit einem Hilferuf der Branche nach niedrigeren Energiekosten und weniger Bürokratie, um die Industrielandschaft Europas wiederzubeleben.
Alle Teilnehmer unterzeichneten im Anschluss den „Industrial Deal“ der EU, den die ebenfalls anwesende Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, ihrem Wunsch gemäß in die Strategische Agenda der EU für 2024-2029 aufnehmen soll.