Die chemische Industrie in Europa ist derzeit einem Klima der Unsicherheit und Angst ausgesetzt, während sie sich auf weitere Verordnungen und Forderungen der politischen Entscheidungsträger der Europäischen Union einstellt
EINE der Säulen der europäischen Wirtschaft – und die beste Chance für die Gesellschaft, eine kohlenstoffarme Wirtschaft der Zukunft zu entwickeln – könnte vor dem Zusammenbruch stehen.
INEOS befürchtet, dass die europäische Politik das Unmögliche anstrebt – und nicht erreichen kann, wenn sie nicht auf die Industrie hört.
„In Europa eine energieintensive Industrie zu betreiben, ist als ob man stranguliert würde“, so Greet Van Eetvelde, INEOS Manager für Cleantech Initiatives. „Die petrochemische Industrie hat Europa zu einer der höchstindustrialisierten und wohlhabendsten Regionen der Welt, zu einer ‚Insel des Wohlstands‘, werden lassen. Doch nun unterzeichnet die Europäische Kommission buchstäblich ihr eigenes Todesurteil.“
Das Problem besteht darin, dass energieintensive Industriezweige in Europa ohnehin bereits unter großem Druck operieren, weil die Energiekosten im Vergleich zu Amerika, dem Nahen Osten und China sehr hoch sind – und stets weiter steigen.
Belastende EU-Initiativen für eine Senkung der Emissionen sind ein weiterer zunehmender Anlass zur Sorge.
Zusammen bedrohen diese Entwicklungen die Existenz der chemischen Industrie in Europa – und stehen im Widerspruch zum EU-Ziel, den Anteil der verarbeitenden Industrie am BIP bis 2020 auf 20 Prozent zu erhöhen.
„Europa riskiert derzeit den Verlust seiner starken Produktionsbasis, ganz zu schweigen von dem Ziel, den 20 Prozent- Anteil der verarbeitenden Industrie am BIP zu erreichen“, so Dr. Peter Botschek, Director of Energy and Climate Action des Verbands der Europäischen Chemischen Industrie (CEFIC). „Die Vorgaben der EU müssen ein ef zientes Wachstum der verarbeitenden Industrie ermöglichen und sich nicht zum Nachteil darauf auswirken.“
Zu den neuesten Reformen, die der chemischen Industrie in Europa größte Sorge bereiten, gehört der Vorzeigeplan der EU
für die Kohlenstoffreduzierung, und zwar
das nach Großunternehmen ausgerichtete Emissionshandelssystem.
CEFIC vertritt 29.000 große, mittelgroße und kleine Chemiebetriebe in Europa.
Aus seiner Sicht könne die chemische Industrie bereits langjährige Erfolge in der Verbesserung der Energie- und Ressourcenef zienz nachweisen, durch die die Treibhausgasemissionen seit 1990 trotz eines 70 Prozent-igen Produktionsanstiegs um 54 Prozent reduziert worden wären.
Erreicht worden sei dies durch Investitionen und Innovationen.
„Diese Innovation ist entscheidend und unerlässlich für die Sicherung weiterer Verbesserungen und die Entwicklung bahnbrechender Technologien, die eine kohlenstoffarme und energieef ziente chemische Industrie in Europa entstehen lassen“, so CEFIC-Präsident Kurt Bock. „Eine blühende chemische Industrie ist ein wesentlicher Teil der Lösung für die Herausforderung des Klimawandels und ein Schlüsselfaktor für die Erreichung der EU-Ziele in Bezug auf Arbeitsplätze, Wirtschaftswachstum und Investitionen.“
Kritiker halten die neuen Reformvorschläge der EU für grundlegend falsch, denn sie würden letztlich die ef zientesten Unternehmen benachteiligen.
„Es ergibt keinen Sinn“, meint Dr. Botschek. „Unternehmen, die bereits den strengsten Vorgaben entsprechen, können nicht noch mehr tun. Doch ab 2025 werden sogar die ef zientesten Unternehmen für ihr eigenes Wachstum Emissionsberechtigungen erwerben. Diejenigen mit den besten Leistungen werden nicht belohnt, sondern mit übermäßigen Kohlenstoffkosten belastet.“
Er behauptete, diese höheren Kohlenstoffkosten würden unweigerlich die Gewinnspanne auffressen und die Industrie daran hindern, von ihren Investitionen langfristig zu profitieren.
Und dafür gibt es bereits Anzeichen.
Trotz steigender weltweiter Nachfrage nach Chemikalien belegt China mittlerweile den ersten Platz bei den weltweiten Umsätzen mit Chemikalien – eine Stellung, die Europa einst für sich beanspruchen konnte.
„Es sollte anerkannt werden, dass Investitionen in Produktionsanlagen langfristiger Natur sind“, so Dr. Botschek. „Energieintensive Industriezweige, die sich langfristig mit einem deutlichen Anstieg der Energiekosten konfrontiert sehen, werden sich solche Entscheidungen gut überlegen.“
Die beste Möglichkeit der Förderung von Investitionen in kohlenstoffarme Technologien sei aus seiner Sicht die Schaffung besserer Wettbewerbsbedingungen für die Industrie durch die EU, damit mehr Geld für Investitionen übrig bliebe.
„Energieintensive Industrien können
ihre Kohlenstoffkosten nicht an den Verbraucher weitergeben, ohne Marktanteile an Konkurrenten außerhalb der EU zu verlieren“, so Botschek.
Weiteres einseitiges Handeln der EU, argumentierte er, würde Nicht-EU-Länder zu attraktiveren Standorten für Investitionen machen, zu Arbeitsplatzverlusten führen und das Wachstum in Europa hemmen. Außerdem könnten solche
Maßnahmen zu höheren Emissionen durch Unternehmen führen, die weniger ef zient seien als die in der EU.
Doch die chemische Industrie macht sich nicht alleine Sorgen über die Zukunftsperspektiven.
Auch die europäischen Stahlproduzenten appellieren an die Kommission, dafür zu sorgen, dass ihre Vorschläge für die Zeit nach 2020 durch Änderungen des Emissionshandelssystems nicht zu unfairen Kostenbelastungen führen, die der weltweiten Konkurrenz erspart bleiben.
Nach einer neuen Studie könnten die vorges chlagenen Reformen die Stahlindustrie alleine etwa 34 Milliarden Euro kosten.
INEOS leistet Lobbyarbeit, wo es nur geht, um Unterstützung gegen die Reformvorschläge zu erhalten; diese würden seine europäischen Geschäfte nach eigenen Schätzungen mehr als 1 Milliarde Euro kosten.
Energieintensiv ist nicht energieinef zient.
„Die Industrie ist bereits hochef zient, eine Änderung der europäischen Gesetze ändert nichts an den Gesetzen der Physik“, so Greet. „Weitere Reduktionen unserer Emissionen und unseres Energieverbrauchs sind nur durch Produktionsverlagerung möglich, was rein gar nichts zu einer Senkung der weltweiten Emissionen beiträgt.“ Leider scheint die Europäische Kommission von der industriellen Realität zunehmend abgehoben zu agieren.“
INEOS will im Hinblick auf bessere Vorschläge der Kommission zur Verringerung des Risikos der Verlagerung von CO2-Emissionsquellen („Carbon Leakage“) während des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens mit den politischen Entscheidungsträgern zusammenarbeiten.
CEFIC arbeitet auch aktiv mit der „Alliance of Energy Intensive Industries“ zusammen, die mehr als 30.000 europäische Unternehmen mit vier Millionen Beschäftigten vertritt, um durch faire und ef ziente Reformen des Emissionshandelssystems ein Wachstum der ef zientesten Unternehmen in Europa zu ermöglichen.
„Die weltweite Nachfrage nach chemischen Erzeugnissen soll sich bis 2030 verdoppeln, wobei der Großteil des Wachstums auf Asien entfällt“, so Bock. „Daher stellt sich für die Entscheidungsträger die Frage: ‚Wie kann die EU-Gesetzgebung dazu beitragen, dass weiterhin chemische Erzeugnisse in der EU hergestellt werden?“
WAS BRINGT DIE ZUKUNFT?
DIE chemische Industrie in Europa gehört zu den wenigen europäischen Produktionssektoren, die immer noch weltweit führend sind.
Sie beschäftigt 1,16 Millionen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, exportiert Güter im Wert von 140 Milliarden Euro und bildet die Grundlage für den verarbeitenden Sektor.
Doch sie verliert aufgrund ihrer steigenden Preise ihre Position auf dem Weltmarkt.
Aus den Zahlen geht hervor, dass der Anteil der chemischen Industrie am Weltmarkt von 32 Prozent im Jahr 1993 auf 17 Prozent im Jahr 2014 zurückgegangen ist; damals wurde sie aufgrund sinkender Exporte und steigender Importe aus Asien erstmals zum Nettoimporteur für Petrochemikalien.
„Es verheißt nichts Gutes für die Zukunft, dass die Investitionen in Europa seit zehn Jahren stagnieren, während sie in China auf das Zehnfache, und in den USA aufgrund des Schiefergasbooms auf das beinahe Vierfache angestiegen sind“, so Greet Van Eetvelde, INEOS Manager für Cleantech Initiatives.
CEFIC sagte, Europa müsse konkurrenzfähig bleiben, wenn die Politik weitere Innovationen erwarte.
Die europäische Vorreiterschaft in Sachen Klimawandel, meint er, dürfe nicht darauf beruhen, dass Industrien in andere Länder mit weniger strengen Vorschriften abwandern; das würde sogar zu einem Anstieg der weltweiten Kohlenstoffemissionen führen, und die Mittel für dringend nötige Innovationen wären nicht länger vorhanden.
„Die Deindustrialisierung Europas ist keine gangbare Option auf dem Weg hin zur Entkarbonisierung und sollte auch niemals als ein solcher angesehen werden“, so ein Sprecher.