Von Jonathan Sebire / Journalist bei In-Debate
Der radioaktive Niederschlag nach der Krise im japanischen Kernkraftwerk Fukushima Daiichi war der schlimmste Strahlengsunfall seit der Kernschmelze in Tschernobyl vor 25 Jahren und hallt mit Nachdruck in der ganzen Welt nach. Eine Industrie am Scheitelpunkt einer weltweiten Renaissance wird von Zweifeln geschüttelt. Die Energiepolitik vieler Länder weltweit gerät sowohl von Oppositionsparteien als auch der öffentlichen Meinung unter Beschuss. Die Europäische Union hat dazu aufgerufen, alle Kernkraftwerke unter extremen Bedingungen zu testen, während China, die USA, die Schweiz, Indien und Deutschland die Genehmigung neuer Kernkraftwerke ausgesetzt haben. Der britische Energieminister Chris Huhne hat ebenfalls eine strategische Prüfung aller britischen Kernkraftwerke angeordnet. Zu einem Zeitpunkt, wo durch den Nahen Osten fegende politische Unruhen die Rohölpreise in Rekordhöhen haben schnellen lassen, hat die Fukushima-Krise die Gefahren alternder Kernkraftwerke in den Blickpunkt gerückt.
Ist die Kernkraft Großbritanniens einzige Hoffnung für eine energiesichere Zukunft? Gibt es bessere Alternativen? Oder sehen wir einer Rückkehr fossiler Brennstoffen und wiederkehrender Stromausfälle entgegen?
PRO:
DIE ANTIKERNKRAFT-REAKTION AUF FUKUSHIMA IST SCHWARZSEHERISCH
Keine Energiequelle kann jemals 100 Prozent risikofrei sein, aber die mit der Kernkraft verbundenen Gefahren wurden von den ‚Katastrophisten’, so Brendan O’Neil von ‚The Telegraph’, überzeichnet. Die Financial Times führt an, dass ‚Fakten in einer von Kernunfällen verursachten Angstwolke verschwinden’ , und es ist offensichtlich, dass die Tragödie von Fukushima eine latente Angst vor Kernenergie ansticht, die sich seit den 70er-Jahren zusammenbraute. Zwischenfälle wie Three Mile Island schürten eine Panik, die zu ähnlich pauschalen Aussagen über die Sicherheit geführt haben. Jedoch ignorieren die meisten Aufrufe zur Aufgabe von Kernenergie die Unterschiede in Alter, Design und ökologischem Risiko zwischen Fukushima und Großbritannien. Im Guardian sagt George Monbiot: ‚Vor dem Hintergrund der Katastrophe von Fukushima bin ich, was die Kernkraft angeht, nicht mehr neutral. Ich unterstütze sie jetzt. Eine miserable 40 Jahre alte Anlage mit unzureichenden Sicherheitsvorrichtungen wurde von einem enormen Erdbeben und einem riesigen Tsunami getroffen. Trotzdem hat noch niemand eine tödliche Strahlungsdosis abbekommen.’
KERNKRAFT IST FÜR DIE ENERGIESICHERHEIT VON GRUNDLEGENDER BEDEUTUNG
Die politischen Unruhen, die an der Küste von Nordafrika entlang in die Golfstaaten gefegt sind, bedeuten eine wirkliche Bedrohung für die britische Energiesicherheit. Mitarbeiter mussten den Jemen und Libyen verlassen, da beide Länder in Bürgerkriege geraten. 2010 war Libyen der drittgrößte Importeur des Vereinigten Königreichs. Dies gekoppelt mit der Abhängigkeit von Erdgas einer russischen Regierung, die bereits ihre Bereitschaft zur Abdrehung des Hahns bewiesen hat, lässt die nationale Abhängigkeit von Kernkraft für die Zukunft als sehr wahrscheinlich erscheinen. Eine Gesetzesvorlage des britischen Wirtschaftsministeriums zur Zukunft der Kernkraft besagt, dass ‚die Nuklearindustrie stabil und voll entwickelt ist’ und die Ausdehnung von Kernkraft in Großbritannien ‚möglicherweise einen reduzierten Bedarf zur Gasbeschaffung aus Ländern mit politischer Instabilität zur Folge hat.’
KERNENERGIE IST FÜR EINE DÄMPFUNG DES KLIMAWANDELS VON GRUNDLEGENDER BEDEUTUNG
Großbritannien hat vorgeschlagen, seine Kohlenstoffemissionen bis zum Jahr 2050 um 80 Prozent zu reduzieren. Um dies zu erreichen, muss die Kernkraft in den Energiemix Großbritanniens einbezogen werden. Die gegenwärtige langfristige Energiepolitik basiert auf einem drei Säulenmodell: eine Bekenntnis zur Kernenergie, die Entwicklung von mehr erneuerbaren Energiequellen wie Wind oder Meer; und neue Technologien zur Filterung von Kohlenstoff, um die zerstörerischen ökologischen Folgen von Kraftwerken mit fossilen Brennstoffen zu mildern. Würde man die Kernenergie aus dieser Gleichung entfernen, müsste man noch massiver in erneuerbare Energiequellen investieren. Tim Yeo, Vorsitzender der Conservative Party, erläutert: ‚Andere Arten von kohlenstoffarmer Energie wie z. B. Solar oder Hochseewind sind teurer als Kernenergie. Solar und Wind sind keine verlässlichen Stromproduzenten – an wolkigen oder windstillen Tagen produzieren sie keine Energie. Also müssen sie mit verlässlichen Stromquellen unterstützt werden.’
DIE ZEIT FÜR REALISIERBARE ALTERNATIVEN LÄUFT AB
Bis auf eines sollen alle zehn britischen Kernkraftwerke bis 2023 geschlossen werden, 8 Standorte wurden als Ersatz ausgemacht. Emissionsgrenzen der EU haben zur Folge, dass bis 2015 auch die meisten heimischen Kohlekraftwerke geschlossen werden müssen. Dies wird zu einem Defizit im Stromnetz führen, das möglicherweise wiederkehrende Stromausfälle wie in den 70er-Jahren verursachen könnte. Tim Yeo: ‚Es ist sehr wahrscheinlich, dass wir ohne neue Kernkraftwerke einfach nicht rechtzeitig eine ausreichend verlässliche Stromproduktion haben, um die im Moment von der Kernkraft erzeugte Energie zu ersetzen.’ Die Möglichkeiten für Länder ohne Kernenergie sind begrenzt, und wie George Monbiot im Guardian argumentiert, wird die Antwort, nicht Holz, Wasser, Wind oder Sonne, sondern fossile Brennstoffe sein. Er ist der Meinung, dass ‚Kohle in jeder Hinsicht hundertmal schlimmer als Kernenergie ist.’ Auch wenn Investitionen zur Erforschung von umweltfreundlichen Technologien bewundernswert sind – falls wir unseren zukünftigen Energiebedarf decken wollen, müssen wir neue Kernkraftwerke bauen.
DAS IST DER WEG, DEN DIE REGIERUNG EINSCHLAGEN MUSS
John McNamara von der Vereinigung der Kernindustrie, die die Regierung zur Energieversorgung berät, räumt ein, dass sich die Regierung zwar die Öffentlichkeit und ihre Bedenken nach Fukushima anhören muss, jedoch bringen alle Energiequellen Risiken mit sich und wir müssen für eine sichere, robuste und kohlenstoffarme Zukunft planen, um unsere Wirtschaft zu stärken. ‚Er fügt hinzu, dass die gegenwärtigen britischen Kernkraftwerke exzellente Sicherheitsstandards aufweisen und einen entscheidenden Anteil unserer kohlenstoffarmen Stromversorgung ausmachen.’
CONTRA:
EINE KERNSCHMELZE WIE IN FUKUSHIMA KÖNNTE HIER AUCH PASSIEREN
Es ist Wahnwitz, die Gefahren, die durch die Katastrophe von Fukushima mehr als deutlich wurden, einfach zu ignorieren. Kernenergie ist nicht nur eine gegenwärtige Gefahr, es handelt sich auch um eine Zeitbombe für unsere Enkelkinder. Erst im September letzten Jahres hat das britische Energieunternehmen EDF zugegeben, dass aufgrund unkorrekter Maßnahmen es zu ‚außerplanmäßigen Abschaltungen’ von zwei Reaktoren in Torness in East Lothian gekommen sei. Dieser Zwischenfall, der in einem Bericht der britischen Atomaufsichtsbehörde beleuchtet wurde, zeigt, dass man sich niemals gegen Inkompetenz und menschliches Versagen schützen kann. ‚Es handelt sich um Zwischenfälle, bei denen laute Warnglocken läuten sollten’, sagt Pete Roche, Kernenergieberater. Brahma Chellaney, Professor für strategische Studien am Center for Policy Research in New Delhi, fügt hinzu, dass der steigende Meeresspiegel eine ernsthafte Bedrohung für küstennahe Kraftwerke darstellt. ‚Viele Kernkraftwerke entlang der britischen Küste befinden sich nur wenige Meter über dem Meeresspiegel.’
KERNKRAFT IST EIN SICHERHEITSRISIKO
Der ehemalige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow hat sich über die terroristische Bedrohung von Ländern mit Kernenergie geäußert und sagte: ‚Nach den schlimmen Zerstörungen durch Terroristen in New York, Moskau, Madrid, Tokio, Bali und anderswo im Laufe der letzten 15 Jahre, müssen wir vorsichtig die Verwundbarkeit von Kernbrennstoffen, Abklingbecken und ähnlichen spaltbaren Materialien, sowie von Anlagen hinsichtlich Sabotage, Attacken und Diebstahl in Betracht ziehen.’ Großbritannien muss sich zwar nichtso wie die am Pazifik liegenden Länder Japan und Kalifornien mit ökologischen Risiken auseinandersetzen, es ist jedoch eine Realität der heutigen Welt, dass Großbritannien Ziel von Terroranschlägen ist.
‘GRÜNE’ KERNKRAFT IST EIN MYTHOS
Die Behauptung, dass Kernenergie die ‚grüne’ und kohlenstofffreie Option ist, ist gewissermaßen irreführend und vernachlässigt völlig die Treibhausgase, die beim Bau der Anlage selbst entstehen, bei der Lagerung von Nuklearabfall sowie beim Abbau des Uranerzes zur Betreibung der Anlage. Ein Bericht der Internationalen Energieagentur aus dem Jahr 2008 hat gezeigt, dass auch eine Vervierfachung der weltweiten Kernenergieproduktion bis zum Jahr 2050 nur 10 Prozent der weltweiten Energieproduktion ausmachen würde. Greenpeace stellte fest, dass diese Erhöhung die weltweiten Kohlenstoffemissionen nur um 4 Prozent reduzieren würde. Das Thema Abfallvermächtnis stellt ebenso eine reale ökologische Bedrohung dar, die Jahrzehnte andauern wird. 2006 warnte der Vorsitzende des Komitees für nukleares Abfallmanagement, Gordon McKerron, die Regierung: ‚Es ist uns in den letzten 50 Jahren nicht gelungen, eine längerfristige Managementmöglichkeit für hochgefährlichen radioaktiven Abfall zu finden’
GROSSBRITANNIEN SOLL BEI ALTERNATIVER ENERGIE FÜHREND SEIN
Großbritannien hat das Potenzial, auf dem Gebiet der erneuerbaren Energien weltweit zu führen und könnte so auf Kernkraft verzichten, ohne seine Energiesicherheit zu riskieren. Aber wir hinken traurig hinter Ländern wie Deutschland hinterher, dessen Solarkollektoren auf Hausdächern mehr Energie produzieren als die Anlage in Fukushima. Im Oktober 2010 hat die Regierung Pläne aufgegeben, die vorsahen, in einen 10 Meilen langen Staudamm im Mündungsgebiet des Severn zu investieren, um ‚grüne’ Energie zu produzieren. Stattdessen wurden Genehmigungen für die acht neuen Kernkraft-Standorte erteilt, die derzeit geprüft werden. Energieminister Chris Huhne sagte damals: ‚Wir brauchen dringend Investitionen in neue und unterschiedliche Energiequellen, um das Vereinigte Königreich weiter zu bringen.’ Trotzdem sieht es so aus, als ob Finanzminister George Osborne massiv die Atomindustrie unterstützt. In seinem jüngsten Haushaltsplan wird die Atomindustrie subventioniert, indem er der neu gegründeten Green Investment Bank erlaubt, Darlehen an Unternehmen zu vergeben, die neue Atomkraftwerke errichten wollen. Er hat ein sogenanntes ‚carbon floor pricing system’ eingeführt, das dazu führt, Atomkraftunternehmen einen unerwarteten Geldregen von 1,3 bis 3 Milliarden englische Pfund zu bescheren. Caroline Lucas, Abgeordnete der Grünen, nannte dies: ‚Einen Verrat an unserer Umwelt.’
DIE BEVÖLKERUNG WILL ERNEUERBARE ENERGIEN, KEINE KERNENERGIE
Eine von Friends of the Earth nach dem Unfall von Fukushima in Auftrag gegebene Umfrage zeigt, dass 75 Prozent der Bevölkerung jetzt mehr Investitionen der Regierung in Energieeffizienz oder erneuerbare Energien wünscht. Nur 9 Prozent der Befragten befürworten weitere Investitionen in Kernenergie. Craig Bennett, Director of Policy and Campaigns von Friends of the Earth UK sieht sich darin bestätigt, dass die Pläne der Regierung zum Ausbau der Kernkraft nicht ‚die Wünsche der Bevölkerung widerspiegeln’. Die Regierung müsse dringend ihre Energiepolitik ändern, bevor acht neue Kernkraftwerke gebaut werden.
Diese Debatte ist dem Magazin In-Debate entnommen. Besuchen Sie www.in-debate.com und registrieren Sie sich für den wöchentlichen Newsletter ‚Fully Briefed’.